Vitamin E- und/oder Selenmangel, Myodystrophie
engl.: NMD = nutritional muscular dystrophy
 
W. Klee  
 
 
Das Wichtigste in Kürze

Auftreten bevorzugt bei Kälbern und erstsömmrigen Jungrindern, häufig mehrere Tiere betroffen. Selenversorgung der Tiere abhängig vom Selengehalt des Bodens, Vitamin E-Gehalt des Grundfutters abhängig von der Witterung und Werbung. Vit E und Se haben Funktionen bei der Verhütung oxidativer Schädigungen, Se ist Bestandteil des Enzyms Glutathion-Peroxidase. Die klinische Symptomatik geht im wesentlichen von der quergestreiften Muskulatur aus. Bei neugeborenen Kälber ist mitunter nur die Zunge betroffen (Trinkschwäche), bei älteren Kälbern tritt die sogenannte Weißmuskelkrankheit in zwei Formen auf: akut tödliche kardiorespiratorische und Skelettmuskelform (steifer Gang, Muskelzittern, Schwäche). Bei Jungrindern kann bis etwa zwei Wochen nach dem Austrieb die sog. paralysierende Myoglobinurie auftreten (Harn schwarzbraun, Rückenmuskulatur derb, Festliegen). Die Diagnose erfolgt jeweils anhand den klinischen Erscheinungen und der CK-Aktivität in Serum oder Plasma. Der Se-Versorgungsstatus kann über die Bestimmung der Aktivität der GSH-Px in den Erythrozyten. abgeschätzt werden. Differentialdiagnosen bei neugeborenen Kälbern: Sepsis, ZNS-Mißbildung, Tetanus; bei älteren Kälbern Meningitis, Tetanie, Sepsis, Tetanus, Polyarthritis; bei Jungrindern Hämolysen. Prognose relativ günstig bei erhaltener Futteraufnahme. Therapie: Wiederholte subkutane Injektion von Vit E und Se, angemessene Aufstallung und Betreuung festliegender Tiere. Prophylaxe: Optimierung der Vit E/Selen-Versorgung durch Supplementierung.


 

Prüfungsstoff
 
 
Epidemiologie Differentialdiagnosen
Pathogenese Prognose
Klinische Erscheinungen Therapie
Diagnostik Prophylaxe

Epidemiologie:
Klinisch manifeste Erkrankungen kommen bei Kälbern und erstsömmrigen Jungrindern vor. Aber auch bei Kühen sind Störungen beschrieben. Fast stets sind mehrere Tiere gleichzeitig betroffen.
 

Pathogenese:
In nicht supplementierten Rationen hängt die Selenversorgung der Tiere vom Se-Gehalt des Bodens ab, der regional stark unterschiedlich sein kann.
Der Vitamin-E-Gehalt des Grundfutters hängt von den Wetterbedingungen bei der Werbung sowie von den Bedingungen bei der nachfolgenden Lagerung ab. Nach verregneten Sommern ist er niedrig.
Selen und Vitamin E haben Funktionen in der Verhütung oxidativer Schädigungen, vor allem von Zellmembranen. In dieser Funktion können sie sich gegenseitig weitgehend "vertreten". Selen ist Bestandteil des Enzyms Glutathion-Peroxidase (GSH-Px enthält 4 Atome Se pro Molekül). Es gibt jedoch auch eine Se-unabhängige GSH-Px.

Bei Jungrindern kann bis etwa zwei Wochen nach dem ersten Weideaustrieb die sogenannte paralytische (besser: paralysierende) Myoglobinurie auftreten. Grundlage ist vermutlich mangelhafte Versorgung mit Vitamin E im vorausgegangenen Winter. Als zusätzliche auslösende Faktoren werden angesehen: ungewohnte Bewegung, Temperatursturz (mit der möglichen Konsequenz der verminderten Durchblutung oberflächlicher Muskelpartien), erhöhte Aufnahme mehrfach ungesättigter Fettsäuren (vor allem Linolensäure) mit dem jungen Gras und damit erhöhter Bedarf an Vitamin E.
 

Klinische Erscheinungen:
Die Symptomatik geht im wesentlichen von der quergestreiften Muskulatur aus, welche pathologisch-anatomisch das Phänomen der Zenkerschen Degeneration zeigt.

Bei neugeborenen Kälbern ist mitunter nur die Zunge betroffen: Trinkschwäche, Zunge kann nicht gerollt werden und hängt mehr oder weniger schlaff seitlich zum Maul heraus. Gefahr der Aspirationspneumonie.

Bei älteren Kälbern tritt die sogenannte Weißmuskelkrankheit (white muscle disease) auf, die zwei Verlaufsformen hat: eine meist akut tödlich verlaufende kardiorespiratorische Form (plötzliche Todesfälle nach Aufschreien, ansonsten Arrhythmie, Tachykardie, Dyspnoe) und eine Skelettmuskelform (steifer Gang, Schwäche, Muskelzittern, Kopf kann nicht lange gehoben werden).

Videosequenz,  34 Sek., 5,3 MB  In der Videosequenz ist ein Braunviehkalb zu sehen, daß zunächst nicht aufstehen kann. Später kann das Tier für kurze Zeit zitternd stehen bleiben.

   Das Tier auf dem Photo kann vorne nicht allein aufstehen.

   Eine Folge des Festliegens kann die aufgelegene Haut im Bereich des Brustbeines sein.

   Das Diagramm zeigt den zeitlichen Verlauf der mittleren Tagestemperatur in der Nähe eines Betriebes. Kurz nach Weideauftrieb ereignete sich ein extrem starker Temperaturabfall, an dessen zweitem Tag klinische Symptome bei mehreren Tieren auftraten.

   Auf der Weide festliegendes Jungrind mit paralytischer Myoglobinurie.

Paralysierende Myoglobinurie: Mehrere Jungrinder werden unvermittelt festliegend auf der Weide aufgefunden, wenig behaarte Haut in der Umgebung des Flotzmaules gerötet (photosensibilisierende Wirkung von Myoglobin?), Rückenmuskulatur derb, Harn schwarzbraun (die makroskopisch feststellbare Myoglobinurie - s. auch "Rotverfärbung des Harns" im Glossar - verschwindet jedoch unter Umständen innerhalb eines Tages!)

   In den 3 Reagenzröhrchen ist Harn eines Tieres mit Myoglobinurie zu sehen. Die Proben wurden an 3 aufeinander folgenden Tagen gewonnen (von links nach rechts).

Bei Kühen sind vermehrtes Auftreten von Mastitiden und Nachgeburtsverhaltungen bei Vitamin E- und/oder Selenmangel beschrieben worden, ebenso gehäuftes Auftreten von Peritarsitiden und Muskelnekrosen im Bereich der Oberschenkelmuskulatur.
 

Diagnostik:
Klinische Erscheinungen. Bestimmung der CK-Aktivität im Serum oder Plasma. Der Se-Versorgungsstatus kann durch die Bestimmung der Aktivität der GSH-Px in den Erythrozyten abgeschätzt werden. Da nach Zufuhr von Selen die GSH-Px-Aktivität erst nach einigen Wochen steigt, ist diese Messung auch kurz nach Se-Applikation aussagekräftig. Die Interpretation wird dadurch erschwert, daß Tiere in Se-Mangelgebieten häufig niedrige Aktivitäten haben, ohne dass es zu klinisch manifesten Störungen kommt. Daher sind auch bei niedrigen Werten (die auf jeden Fall aber zu Supplementierung Anlass geben sollten) differentialdiagnostisch einige Krankheiten in Betracht zu ziehen.
 

Differentialdiagnosen:
Neugeborene Kälber: Sepsis, ZNS-Mißbildung, Tetanus
Ältere Kälber: Meningitis, Tetanie, Pasteurellen-Sepsis, Polyarthritis, Tetanus
Jungrinder: Hämolysen
 

Prognose:
Weißmuskelkrankheit und paralysierende Myoglobinurie sind meist zu heilen, wenn die betroffenen Tiere noch Nahrung aufnehmen. Ungünstige Ausgänge sind dann meist auf Komplikationen (Aspirationspneumonie, Dekubitalschäden) zurückzuführen.
 

Therapie:
Mehrfache Injektionen von Vitamin E und Selen. Vereinzelt wird über schwerwiegende Reaktionen (sogar perakute Todesfälle) nach intramuskulärer Injektion von emulgierten Vitamin-E-Präparaten berichtet. Daher sollte man die subkutane Injektion vorziehen (die nach unserer Überzeugung ohnehin grundsätzlich vorzuziehen ist), aber trotzdem für derartige Zwischenfälle gerüstet sein (Antihistaminikum, Glukokortikoid, 5 - 10 ml Adrenalin 0,1 %).
Festliegende Tiere sollten weich und trocken gelagert und täglich mindestens zweimal gedreht werden. Ihre Beine sollten zur Vorbeuge von Sehnenkontrakturen öfters passiv bewegt werden.
 

Prophylaxe:
Vitamin-E-Injektionen bei trockenstehenden Kühen.
Selen-Versorgung: 0,1 bis 0,3 ppm in der Tr.S.
 

PubMed
 
 

Weiterführende Informationen
 


Letzte Änderung: 03.11.2003


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