Operation bei Vorliegen eines Harnröhrenverschlusses beim kleinen Wiederkäuer
K. Voigt, M. Metzner 

Das Wichtigste in Kürze
Die häufigste Ursache für einen Harnröhrenverschluss beim männlichen Tier sind Obstruktionen durch Harnsteine im Bereich des Processus urethrae oder der Flexura sigmoidea.
Eine rein medikamentelle Therapie ist in der Regel unwirksam. Als Erstmaßnahme sollte in Sedation am vorverlagerten Penis der Processus urethrae mit einem Scherenschlag an der Basis abgesetzt werden. Sofern hierdurch der Harnabsatz nicht wiederhergestellt werden kann, ist die erfolgversprechendste weitergehende chirurgische Maßnahme beim kleinen Wiederkäuer eine Laparotomie und Cystotomie mit anterograder Spülung der Urethra und temporärer Implantation eines Ballonkatheters in die Harnblase. Die Prognose ist vorsichtig zu stellen und die Rezidivrate relativ hoch. Alternativ ist die Euthanasie in Erwägung zu ziehen.

1. Ursachen

Die mit Abstand häufigste Ursache für einen Harnröhrenverschluss ist die Obstruktion des Harnröhrenlumens durch einen oder mehrere Harnsteine im Processus urethrae oder der Flexura sigmoidea. Kastraten sind häufiger betroffen (engeres Harnröhrenlumen). Als Ursachen gelten Zusammensetzung der Futterration und zu geringe Wasseraufnahme, auch eine tierindividuelle Prädisposition zur Bildung von Harnkonkrementen wird vermutet. Häufige Harnkonkremente bei kleinen Wiederkäuern sind Struvit, Apatit oder Calcit, auch Silikatsteine oder gemischte Steine können vorkommen. Kraftfutterreiche Rationen begünstigen insbesondere die Bildung von Struvit und Apatit, während Calcitsteine mit leguminosenreichen Rationen in Verbindung gebracht werden. Weitere Ursachen für einen Harnröhrenverschluss können die Obstruktion durch Entzündungsprodukte (Harnwegsinfektionen, Zystitis, überwiegend ältere Tiere betroffen) oder Tumoren, eine Kompression (Penishämatom, Phlegmone), Penisquetschung z.B. in Folge fehlerhafter Burdizzokastration und angeborene Verschlüsse sein.

2. Diagnostik und Erstmaßnahmen

Die klinischen Anzeichen sind oft zunächst unspezifisch. Die Tiere zeigen Inappetenz und Störung des Allgemeinbefindens, Pansenatonie und ruckartiges Aufziehen des Bauches, sowie gelegentlich leichte Koliksymptome, oft allerdings lediglich vermehrtes Liegen. Zähneknirschen kann als Schmerzäußerung beobachtet werden. Die häufigste Fehldiagnose ist 'Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes'. Eine Harnröhrenobstruktion sollte beim männlichen kleinen Wiederkäuer früh in die Differentialdiagnostik einbezogen werden. Bei weiblichen Tieren gehen ggf. vorhandene Harnkonkremente aufgrund der Kürze und Weite der sehr geraden Harnröhre mit weiterem Lumen in der Regel ohne klinische Symptome ab, es kommt zu keiner Obstruktion.

Eine Überprüfung des Harnabsatzes kann entweder durch Verbringen in ein einstreuloses Areal oder durch Umbinden eines Handtuches erfolgen. Zudem sollte mittels Ultraschalluntersuchung der Füllungszustand der Harnblase überprüft werden. Bei länger bestehendem Verschluss kann es zu Läsionen und Durchlässigkeit im Bereich des Blasenhalses oder der Harnröhre kommen; Harn läuft subkutan nach ventral und sammelt sich subkutan im Bereich des Präputiums an (Harnödem). Später kann die Haut hier nekrotisch werden (Harngangrän, schimmert bläulich und ist kalt) oder es kann sich eine Harnphlegmone entwickeln, wenn es sich um infizierten Harn handelt. Rupturiert die Harnblase oder ein Harnleiter, so fließt der Harn in die Bauchhöhle (Uroperitoneum). Handelt es sich um infizierten Harn, kommt es zur Peritonitis. Rückstau in die Niere kann zur Erweiterung des Nierenbeckens und Hydronephrose mit bleibender Nierenschädigung führen.

In der Regel setzen kleine Wiederkäuer, wenn sie gestresst werden (zum Beispiel durch Einfangen und die Untersuchung), Harn ab. Der Nachweis einer gefüllten Harnblase bei der Ultraschalluntersuchung ist daher immer als verdächtig zu werten. In der Regel ist bei vollständigem Harnröhrenverschluss die Harnblase stark dilatiert und kann mittels Echographie im kaudalen Abdomen leicht dargestellt werden. Dabei kann auch das Vorliegen eines Uroperitoneums oder einer Peritonitis diagnostiziert werden. Es empfiehlt sich, auch die Nieren echographisch zu untersuchen, denn massive Stauungs- und vor allem Entzündungsanzeichen verschlechtern die Prognose.

Die Blutuntersuchung ergänzt die Diagnostik. Labordiagnostisch besteht eine postrenale Azotämie (in gleicher Relation angestiegene Harnstoff- und Kreatinplasmakonzentration).

Die stark dilatierte Harnblase kann mittels Echographie dargestellt werden. Dabei kann auch das Vorliegen eines Uroperitoneums oder einer Peritonitis diagnostiziert werden. Es empfiehlt sich auch die Nieren echographisch zu untersuchen, denn massive Stauungs- und vor allem Entzündungsanzeichen verschlechtern die Prognose.

USG Harnroehrenverschluss

 

 Echographie der stark dilatierten (Durchmesser ca. 12,5 cm) Harnblase eines Ziegenbocks.

 Schallrichtung: von ventral nach dorsal.


Echographie: K. Voigt

Beim männlichen kleinen Wiederkäuer kann am umgesetzten Tier versucht werden, die Penisspitze vorzuverlagern (eine Hand umgreift den Penis mit der ihn umgebenden Haut des Präputiums im Bereich der Flexura sigmoidea, die andere Hand das Präputium in der Nähe seiner Öffnung, und beide Hände werden gegeneinander geschoben. In vielen Fällen gelingt es, die Penisspitze mit dem Proc. urethrae aus der Präputialöffnung herauszuschieben. Ist dort ein Stein (kugelige Auftreibung in meist dunkelrot (statt rosa) schimmerndem Proc. urethtrae) oder eine Anschoppung von Harngrieß sichtbar, kann unter Umständen der Harnabsatz durch Absetzen des Proc. urethrae an seiner Basis wieder hergestellt und damit ein weitergehender chirurgischer Eingriff vermieden werden.

Labordiagnostisch besteht postrenale Azotämie (in gleicher Relation angestiegene Harnstoff- und Kreatinplasmakonzentration).

In Fällen von Harnphlegmone, Peritonitis oder Hydronephrose sollte von einem chirurgischen Eingriff abgesehen und das Tier euthanasiert werden.

3. Anästhesie

Der Eingriff dauert etwa 1 Stunde und sollte unter Vollnarkose durchgeführt werden. Als Anästhesie können Totale Intravenöse Anästhesie (TIVA) oder Inhalationsanästhesie gewählt werden. Durch die Rückenlagerung besteht eine erhöhte Gefahr eines Atemstillstands, weshalb entsprechende Vorkehrungen zur Atemstimulation (Doxapram) und Beatmung bereitgehalten werden müssen. Eine Intubation wird auch empfohlen, damit bei Regurgitieren die Aspiration von Panseninhalt verhindert wird. Damit es nicht zu einer respiratorischen Azidose kommt, sollte eine mechanische Beatmung eingeplant werden.

4. OP-Vorbereitung

Verabreichung eines Antiinfektivums, Antiphlogese, Tetanusprophylaxe, aseptische Vorbereitung des Operationsgebietes. Das Tier wird in Rücken- oder schräger Seitenlage operiert. Infusionen dürfen erst nach erfolgter Wiederherstellung des Harnabsatzes verabreicht werden.

5. OP-Durchführung

5.1 Beschreibung der OP-Durchführung

Die Haut wird paramedian und parallel zum Präputium bis in etwa zu Höhe der Zitzen durchtrennt. Die darunter liegende Subkutis und das meist üppige Fettgewebe werden bis zum Sichtbarwerden der Tunica flava durchtrennt. Nun kann entlang der Tunica das Präputium zur Medianen hin wegpräpariert werden. Hierdurch wird ein Zugang zur Bauchwand in der Medianen möglich. Diese wird in der Linea alba eröffnet. Beim Eröffnen der Bauchhöhle wird im kaudalen Abdomen die Harnblase sichtbar, die meist hochgradig dilatiert und je nach Dauer des Verschlusses noch frisch (rosa), bläulich verfärbt oder bereits rupturiert ist. Zwei in die Harnblasenwand als U-Hefte eingenähte Haltezügel helfen, die Harnblase in der Nähe der OP-Wunde zu halten.
Über eine Schlauchkanüle kann der in der Harnblase befindliche Harn spontan ablaufen oder über einen Sauger abgesaugt werden. Nun wird die Harnblase in der Nähe des Blasenpols eröffnet, das Lumen der Harnblase auf dort möglicherweise befindliche Harnsteine untersucht und diese ggf. durch Spülen und Absaugen entfernt. Durch Einführen eines dünnen Katheters vom Harnblasenhals aus in die Harnröhre wird versucht, durch Spülung dort befindlicher Harnsteine nach distal anterograd herauszuspülen. Anschließend wird die Harnblase durch eine doppelte einstülpende Naht nach CUSHING wieder verschlossen.
Eventuell vorhandene Rupturstellen werden ebenfalls verschlossen. Durch eine Stichinzisionin der Bauchwand lateral der OP-Wunde wird ein Katheter nach FOLEY eigezogen zunächst in die Bauchhöhle und anschließend über eine Stichinzision lateral an der Blase in die Harnblase eingezogen. Eine einstülpende Tabaksbeutelnaht in der Harnblasenwand sichert den Sitz des Katheters in der Harnblase. Anschließend wird der Ballon des Katheters mit isotonischer Kochsalzlösung gefüllt und die Harnblase mithilfe des Katheters an die Bauchwand herangezogen. Die OP-Wunde wird in 4 Schichten verschlossen (Naht der Linea alba (Kürschnernaht); Adaptationsnaht des Präputiums; Unterhautnaht im Matratzenstil; Hautnaht oder Hautklammerung (z.B. Manipler)). Eine weitere, aber ausstülpende Tabaksbeutelnaht in der Haut um den Katheter herum sichert seinen Sitz in der Haut. Die Fadenenden der Tabaksbeutelnaht werden als Ligatur um den Katheter herum geknüpft. Klebestreifen, die auf die Haut genäht werden, sorgen dafür, dass der Katheter nicht vom Abdomen auf den Boden hängt.

5.2 Bilder zur OP-Durchführung

Harnroehrenverschluss beim kleinen Wiederkäuer

 

 Ziegenbock mit Harnröhrenverschluss: Halbe Seitenlagerung.

 

Harnroehrenverschluss beim kleinen Wiederkäuer

 

  Nach paramedianer Inzision der Haut werden Subkutis und subkutanes Fettgewebe mit der Schere durchtrennt.

 Das Präputium muss geschont werden und wird entlang der Tunica flava nach seitlich wegpräpariert. 


  

 

Harnroehrenverschluss beim kleinen Wiederkäuer

 

  Das Präputium muss geschont werden und wird entlang der Tunica flava nach seitlich wegpräpariert.


 

Harnroehrenverschluss beim kleinen Wiederkäuer

 

 Die Inzisionen der Linea alba und des Peritoneums werden in der Medianen ausgeführt.

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Harnroehrenverschluss beim kleinen Wiederkäuer

 

 Vor dem Beckeneingang liegt die prall gespannte und rot-bläuliche schimmernde Harnblase.

 

Harnroehrenverschluss beim kleinen Wiederkäuer

 

 Die Därme werden durch ein mit isotoner Kochsalzlösung befeuchtetes Tuch zurückgedrängt.

 Damit nach der Entleerung der Harnblase diese noch in das OP-Feld gezogen werden kann, werden lateral in der Harnblasenwand zwei Haltezügel eingenäht (z.B.: monofiler Glykonatfaden, metric 3,5)

 

Harnroehrenverschluss beim kleinen Wiederkäuer

 

 Eine Kanüle mit Schlauch wird in die Harnblase eingestochen und der Harn abgesaugt.

 

Harnroehrenverschluss beim kleinen Wiederkäuer

 

 Der abgesaugte Harn wirkt klar und ist goldgelb (enthält also nur wenig Blut).

 

Harnroehrenverschluss beim kleinen Wiederkäuer

 

 Durch eine Inzision in der Medianen der Harnblase wird versucht, über den Harnblasenhals die Harnröhre zu katheterisieren. So können dort befindliche Harnsteine unter leichtem Druck nach distal (anterograd) herausgespült werden.

 Anschließend wird die Öffnung in der Harnblase mittels doppelter einstülpender Naht nach CUSHING (z.B.: monofiler Glykonatfaden, metric 3,5) wieder verschlossen.

 

Harnroehrenverschluss beim kleinen Wiederkäuer

 

 Lateral der Wunde wird mit dem Skalpell unter Fingerschutz eine Stichinzision in die Bauchwand angelegt.

 

Harnroehrenverschluss beim kleinen Wiederkäuer

 

 Eine Arterienklemme wird an der Skalpellklinge entlang von außen nach innen durch die Öffnung geschoben und dann das Skalpell zurückgezogen. Eine weitere Arterienklemme wird nun von innen nach außen entlang der ersten Klemme geschoben.

Auf diese Weise können sich die verschiedenen Schichten (Haut, Subkutis, subkutanes Fettgewebe, M. rectus abdomis, Peritoneum) nach der Stichinzision nicht gegeneinander verschieben.

 

Harnroehrenverschluss beim kleinen Wiederkäuer

 

 Mit der verbliebenen Arterienklemme kann nun ein FOLEY-2-Wege-Katheter aus weichem Latex (18 Charrière) durch den Stichkanal von außen in die Bauchhöhle gezogen werden..

Harnroehrenverschluss beim kleinen Wiederkäuer

 

 Mit dem Skalpell wird nun lateral eine Stichinzision in die Harnblase vorgenommen.

 

Harnroehrenverschluss beim kleinen Wiederkäuer

 Die Spitze des FOLEY-Katheters wird in die Harnblase eingeschoben und anschließend mit einer Tabaksbeutelnaht fixiert (z.B.: monofiler Glykonatfaden, metric 3,5).

 

 

Harnroehrenverschluss beim kleinen Wiederkäuer

 

 Der Ballon des FOLEY-Katheters wird mit isotoner Kochsalzlösung befüllt. Dabei sind die auf dem Katheter angegebenen Grenzwerte zu beachten.  

 

 

Harnroehrenverschluss beim kleinen Wiederkäuer

 

 Die Bauchwand wird mit einer Naht nach KÜRSCHNER verschlossen (z.B.: geflochtener Polyglykolsäurefaden, metric 6) verschlossen und danach das Präputium durch eine Adaptationsnaht fixiert.

 Es folgen eine Unterhautnaht sowie der Verschluss der Haut (z.B.: mit einem Klammernahtgerät, U-Heften oder einer Naht nach REVERDIN). 

 

Harnroehrenverschluss beim kleinen Wiederkäuer

 

 Die Fadenenden einer Tabaksbeutelnaht um den Katheter herum in der Haut werden als Doppelligatur um den Schlauch herum geführt. Hierdurch wird ein Herausrutschen des Schlauches verhindert.

 Doppelklebestreifen, die um den Katheter herum geklebt werden, werden mit U-Heften an der Haut angenäht.

 

 

Fotos: M. Metzner, K. Voigt

6. Prognose

Die Prognose ist generell vorsichtig zu werten und verschlechtert sich mit zunehmender Krankheitsdauer aufgrund der beschriebenen möglichen Folgeerscheinungen. Auch in Fällen, in denen eine anterograde Spülung der Harnröhre nicht möglich ist, kann sich nach vorübergehender Herstellung des Harnabflusses über den Ballonkatheter ein Harnstein in der Urethra, ggf, nach abschwellender Therapie, noch lösen. Dennoch wirkt sich die Spülbarkeit der Urethra positiv auf die Prognose aus.

Rezidive sind leider häufig. Alternative Operationsverfahren wie beispielsweise das Anlegen einer wie beim Rind beschriebenen Harnröhrenfistel sind grundsätzlich auch beim kleinen Wiederkäuer möglich. Durch die geringe Größe der Harnröhre und den häufig stark verfetteten Zustand der Tiere ist die Operation jedoch unübersichtlicher als beim Rind. Zudem berichtet die Literatur von gehäuft vorkommenden Narbenstrikturen, die zu einem baldigen Verschluss der Fistel führen können. Es ist zudem für Zuchttiere zu beachten, dass mit Anlegen einer Harnröhrenfistel die Zuchttauglichkeit des Tieres endet.

7. Nachsorge

Infusionstherapie in den ersten Tagen post op.; Verabreichung eines Antiinfektivums bis zum Entfernen des Ballonkatheters nach ca. 14 Tagen, Schmerzmittel nach Bedarf, jedoch mindestens bis zwei Tage nach der OP.

Nach 7 Tagen kann der Katheter versuchsweise verschlossen werden. Zusätzlich wird ein Handtuch um den Unterbauch gespannt. So kann überprüft werden, ob Harnabsatz über die Urethra erfolgt. Der Ballonkatheter wird 10 - 14 Tage post op. entfernt (nicht früher, da eine vorübergehende Verklebung der Harnblase mit der Bauchwand an der Stelle gewünscht ist). Die Hauthefte oder Klammern werden 10 - 14 Tage post op. entfernt. Hierzu muss die Flüssigkeit aus dem Ballon des FOLEY-Katheters abgezogen, die Fixierung gelöst und der Katheter gezogen werden. Die Wunden in der Harnblase und der Bauchwand verschließen sich von allein.

Eine Harnsteinanalyse wird empfohlen, damit für den Bestand gezielte Fütterungsempfehlungen getroffen werden können. Generell ist auf eine gute Wasseraufnahme und wiederkäuergerechte Rationen zu achten.

Handtuchmethode

 

 Ziegenbock mit umgebundenem Handtuch zur Kontrolle des Harnabsatzes


Foto: K. Voigt