2.8. Spezielle Untersuchung: Zentrales und peripheres Nervensystem



Zur Definition der wichtigsten Fachausdrücke siehe Ende des Kapitels.

I) Haltung, Verhalten, Bewegungsfähigkeit:

Haltung, Verhalten (siehe Allgemeinuntersuchung) und Bewegungsfähigkeit werden durch komplexe nervale Vorgänge geregelt. Sowohl Rückenmark als auch Hirnstamm, Kleinhirn und Großhirn sind hierfür erforderlich.

Die Untersuchung der Haltung und des Verhaltens erfolgt durch Adspektion. Die Bewegungsfähigkeit wird durch Beobachtung des Ganges der Tiere oder gegebenenfalls durch einen Aufhebeversuch und durch Palpation des Muskeltonus (Palpation der Rückenmuskulatur, Öffnen des Mauls, Prüfen der Schwanzspannung, Prüfen der Resistenz gegen Manipulation) untersucht.

1) Haltung (Verlust der Stehfähigkeit, breitbeiniges Stehen, Opisthotonus)

2) Verhalten

3) Bewegungsfähigkeit (Motorik, Motilität, Muskeltonus) Von den zerebello-vestibulären Körperstell- und Korrekturreflexen ist vor allem der Übertritt- oder Stolperreflex leicht prüfbar: kräftiges Schieben gegen Schulter oder Hüfte, so dass die Last überwiegend auf dem kontralateralen Vorder- oder Hinterbein zu liegen kommt, führt zu raschem Seitwärtstreten und somit wieder zur gleichmäßigen Gewichtsverteilung.

Großhirnsyndrom:

Kleinhirnsyndrom: Hirnbasissyndrom: II) Untersuchung der Gehirnnervenfunktionen:
  • Adspektion des Kopfes von vorne:besondere Beachtung von Asymmetrien (Achtung, diese können zum Teil nur durch sehr genauen Vergleich festgestellt werden). Im Weiteren werden bei Reflexen afferente Nerven und efferente Nerven wie folgt angegeben: N. afferens => N. efferens.
  • Ohrabwehr: N. vagus/trigeminus => N. intermediofacialis/accessorius

  • Einführen z.B. eines Strohhalmes in den äußeren Gehörgang => Ohrschütteln/Abwenden des Kopfes
  • Blinzelreflex: N. opticus => N. intermediofacialis/accessorius

  • Plötzliches, mehrfaches, ruckartiges Fingerspreizen vor dem Auge (nicht auf das Auge zu, sondern parallel zur Kopfseite, denn es darf kein Luftzug entstehen) => Schließen des Auges/Abwenden des Kopfes
    Dieser Reflex muss wahrscheinlich erlernt werden, deshalb funktioniert er bei vielen jungen Kälbern auch physiologischerweise nicht sofort.
  • Lid-, Cornealreflex: N. trigeminus => N. intermediofacialis

  • Vorsichtiges Berühren des medialen Augenwinkels bzw. der Cornea => Schließen des Auges
  • Pupillarreflex: N. opticus => N. oculomotorius (parasympathische Innervation)/Thorakalsegmente des Rückenmarkes (sympathische Innervation)

  • Lichteinfall auf die Pupille => Verengung der Pupille des beleuchteten (direkter) und des anderen (konsensueller Pupillarreflex) Auges
  • Prüfen der Kieferspannung
  • Gaumenreflex: N. trigeminus => N. trigeminus/N. intermediofacialis

  • Einführen der Hand in die Maulspalte, Drücken gegen den harten Gaumen => Öffnen des Mauls
    Kieferspannung erhöht: Maul schwer oder nicht zu öffnen (Trismus)
    Kieferspannung reduziert: beim Seitwärtsschütteln des Oberkiefers bewegt sich der Unterkiefer unabhängig vom Oberkiefer (Schlotterkiefer)
  • Prüfen der Zungenspannung (Zungenreflex): N. trigeminus => N. hypoglossus

  • Erfassen der Zunge => Zunge wird zurückgezogen
    Zungenspannung reduziert: Zunge lässt sich aus dem Maul herausziehen, wird beim Loslassen langsam oder gar nicht zurückgezogen. Dieser Befund kann allerdings auch bei Enzephalitis zu erheben sein und beruht dann vermutlich auf Störung des Bewusstseins.
  • Kaureflex: N. trigeminus => N. trigeminus

  • Füttern mit Rauhfutter => Kauen
  • Saugreflex (Kälber): N. trigeminus => N. hypoglossus

  • Finger in Maul => Saugen (mit "Rillenbildung" der Zunge)
  • Schluckreflex: N. trigeminus => N. glossopharyngeus/N. vagus

  • Futter hinter dem Zungenrückenwulst => Schlucken. Bei Ausfall dieses Reflexes kommt es zum "Wickelkauen", d. h. mehr oder weniger zerkautes Futter bleibt als kompakter Ballen hinter dem Zungenrückenwulst liegen.

     
    Symptome Innervation Gehirnnerv
    Verlust des Sehvermögens (rennt gegen im Weg stehende Hindernisse) 

    Ausfall des Blinzelreflexes

    Retina N. opticus (II)
    Ptosis des oberen Augenlides 

    Schielen nach seitlich abwärts 
     
     

    Mydriasis 

    Ausfall des Pupillarreflexes

    M. levator palpebrae superioris 

    Augenmuskeln 
     
     

    M. sphincter pupillae

    N. oculomotorius (III)
    Drehschielen (medialer Bulbuspol nach dorsal rotiert) Augenmuskeln N. trochlearis (IV)
    Sensibilitätsverlust im größten Teil des Kopfbereiches, Ausfall Lid-, Cornealreflex 

    Ausfall des Saug-, Gaumendruck- und Kaureflexes 

    Zungenspannung reduziert 

    Schlotterkiefer

    Sensible Innervation der Haut, der Iris und der Cornea 
     

    Sensible Innervation der Schleimhäute (auch Zunge) 
     
     

    motorische Innervation der Kaumuskeln

    N. trigeminus (V)
    Einwärtsschielen Augenmuskel N. abducens (VI)
    Hängen des Ohres 
     

    Unvermögen, Auge zu schließen 

    Tonus von Ober-, Unterlippe reduziert 

    Ausfall von Ohr-, Blinzel-, Lid-, Cornealreflex 

    Speichelverlust 

    Tränensekretion sinkt 

    Motorische Innervation der mimischen Muskulatur (außer M. levator palpebrae superioris) 
     
     
     
     
     
     
     

    Parasympathische Innervation aller Kopfdrüsen außer der Parotis

    N. intermediofacialis (VII)
    Taubheit
    Schräghalten des Kopfes (erkrankte Seite tief) 

    Gleichgewichtsstörungen

    Gehör 

    Gleichgewichtssinn

    N. vestibulocochlearis (VIII)
    Schluckstörungen Schlundkopferweiterer N. glossopharyngeus (IX)
    Schluckstörungen 

    Sensibilitätsverlust an der Innenfläche der Ohrmuschel 

    Störungen Pansenmotorik, Bradykardie etc.

    Schlundkopfschnürer 

    Sensible Innervation der Innenfläche der Ohrmuschel 

    Parasympathikus

    N. vagus (X)
    Zungenlähmung 

    Zungenspannung reduziert

    Motorische Innervation der Binnenmuskeln der Zunge N. hypoglossus (XII)

    Ein Ausfall des N. olfactorius (I) mit Verlust des Riechvermögens und des N. accessorius (XI), der Halsmuskeln innerviert, ist kaum diagnostizierbar und auch klinisch ohne Bedeutung.

     

    III) Untersuchung der Rückenmarksfunktionen:

    IV) Untersuchung der Funktion peripherer Nerven:

    1) Kopfnerven (s.o.)

    2) Gliedmaßen:

    Beispiele:Radialislähmung: Lähmung der Extensormuskeln der Vordergliedmaßen, Überköten, Fußen auf dem Fesselkopf ("Kußhand"), Gliedmaße wird schleifend nachgezogen

    Ischiadicuslähmung: Knie- und Sprunggelenk gestreckt, Zehe gebeugt, Bein hängt schlaff herab, in der Bewegung schleift dorsale Klauenwand auf dem Boden

    Fibularislähmung: Ausfall der Beuger des Sprunggelenks und Strecker der Zehe, Fersenhöcker hängt tief, Fußen auf dem Fesselkopf, beim Vorführen bleibt das Bein gestreckt

    Tibialislähmung: Ausfall der Sprunggelenksstrecker und Zehenbeuger, Fersenhöcker erscheint herabhängend, Fessel überkötet, Vorführen des Beines mit gebeugtem Tarsus (Differentialdiagnose: partielle Gastrocnemiusruptur)

    Obturatoriuslähmung: Ausfall der Adduktoren, Bein wird abduziert gehalten, Gliedmaße wird mit steifer, halbkreisförmiger Auswärtsbewegung nach vorne geführt

    3) Sensible Innervation der Haut (modifiziert nach Stöber, M., 1990, Zentrales Nervensystem, In: Dirksen, G., H.-D. Gründer u. M. Stöber (Hrsg.), G. Rosenberger: Die klinische Untersuchung des Rindes, 3. Auflage, Verlag Paul Parey, Berlin)


     
     
    1   N. trigeminus  8.  N. medianus / ulnaris
    2   N. vagus  9.  dorsaläste der Lendennerven
    3.  N. intercostobrachialis 10.  Dorsaläste der Kreuznerven
    4.  N. axillaris 11.  N. glutealis caudalis
    5.  N radialis 12.  N. saphenus
    6.  N. ulnaris 13.  N. tibialis
    7.  N. muscolucutaneus 14.  N. fibularis

    Die Darstellung ist schematisch, am lebenden Tier überlappen sich die sensiblen Hautareale gegenseitig.

    V) Untersuchung des Liquor cerebrospinalis:

    Indikation: Feststellung und Differenzierung einer Infektion des ZNS oder Beteiligung des ZNS an einer systemischen Infektion (z.B. Sepsis).

    Technik der Liquorentnahme:
    Die Entnahme von Liquor ist durch subokziputale oder lumbosakrale Punktion möglich. Zur subokziputalen Punktion ist der Patient stark zu sedieren oder in Kurznarkose zu legen und, je nach Größe, in Brustlage oder flacher Seitenlage zu lagern. In beiden Fällen ist das Genick maximal abzubeugen. Die Einstichstelle liegt in der Medianen in Höhe des kranialen Randes der Atlasflügel. Nach Vorbereitung der Umgebung wie zu einer Operation empfiehlt es sich, die Haut mit einer Einmalkanüle vorzustanzen. Die Entnahme erfolgt am besten mit einer speziellen Punktionskanüle mit eingeschliffenem Mandrin, für ein erwachsenes Rind ca. 120 - 160 x 1,5 bis 2,0 mm, für ein Kalb oder einen kleinen Wiederkäuer entsprechend kleiner. Der Einstich erfolgt in Richtung auf das Flotzmaul. Die Dura mater ist als Widerstand zu spüren, und beim Durchstechen zucken die Tiere, sofern sie nicht in Narkose sind. Unmittelbar hinter der Dura mater ist der Liquorraum erreicht. Die Punktion kann mithilfe von Sonographie gezielter gestaötet werden (Braun et al. 2015). Nach Entfernen des Mandrins tropft der Liquor normalerweise ab. Abfluss im Strahl deutet auf Erhöhung des Liquordrucks hin. Die Erhöhung kann pathologisch sein oder auf Erhöhung des Venendrucks (durch Kompression des Halses oder durch Pressen) beruhen.

    Die Entnahme von Liquor durch lumbosakrale Punktion ist am stehenden Tier am einfachsten, weil dann die Mediane und die Senkrechte am besten zu finden sind. Die Einstichstelle liegt in der Delle vor dem ersten Dornfortsatz des Kreuzbeins. Diese Stelle liegt etwa auf der Höhe des Hinterrandes der Hüfthöcker. Auch hier empfiehlt es sich, die Haut vorzustanzen. Der Einstich erfolgt genau senkrecht. Die Dura mater ist auch hier zu spüren. Der Liquor tropft normalerweise nicht ab, lässt sich aber bei korrektem Sitz der Kanülenspitze mühelos ansaugen.

    Als Entnahmevolumen reichen ca. 20 ml (bei einem erwachsenen Rind) für alle in Frage kommenden Untersuchungen. Zur zytologischen Untersuchung muss der Liquor rasch (am besten innerhalb von 30 min) verarbeitet werden (Sedimentationskammer oder Zytozentrifuge). Ein Teil sollte in ein steriles Röhrchen zur mikrobiologischen Untersuchung verbracht werden, falls das Tier nicht schon antibakteriell vorbehandelt wurde ein anderer Teil in ein Röhrchen mit Antikoagulans.

    Normaler Liquor cerebrospinalis (eng.: CSF = cerebrospinal fluid) sieht aus wie Wasser, farblos und völlig transparent. Bei starker eitriger Meningoenzephalitis ist der Liquor oft schon makroskopisch als verändert erkennbar: Trübung (bei Zellkonzentrationen ab ca. 1000/µL erkennbar), Schlieren, im Extremfall baldige Gerinnung (bei Konzentrationen von kernhaltigen Zellen über 10.000/ µL,falls das Gefäß kein Antikoagulans enthält). Bei makroskopisch nicht erkennbar verändertem Liquor sind in der Praxis noch semiquantitaive Eiweiß-Tests (z.B. # Pandy-Test; reagiert mit Globulinen; die untere Nachweisgrenze liegt mit 0,5 g/L im eindeutig pathologischen Bereich) sowie der Schalm-Test (auf Erhöhung der Konzentration kernhaltiger Zellen; die Nachweisgrenze liegt mit ca. 900 Zellen/µL sehr deutlich im pathologischen Bereich) durchführbar. Die übrigen Untersuchungen sind an ein Labor gebunden.

    Liquor mit offensichtlicher (meist punktionsbedingter) Blutbeimengung ist in der Regel für eine Untersuchung nicht geeignet. Eine Differenzierung zwischen punktionsbedingter Einblutung und Subarachnoidal-Blutung ist (bei subokziputaler Punktion) durch die "3-Gläser-Methode" möglich: abtropfender Liquor wird nacheinander in drei Röhrchen aufgefangen. Wenn die erkennbare Rotverfärbung des Liquors vom ersten zum dritten Röhrchen abnimmt, stammt die Blutung von der Punktion.

    Zur weiteren Untersuchung von Liquor s. Laborskriptum.

    VI) Definition einiger Fachausdrücke:
     
    Anisokorie Ungleiche Pupillenweiten
    Apathie Teilnahmslosigkeit
    Ataxie Störung der Bewegungsabläufe: die Einzelbewegungen gehen nicht fließend ineinander über
    Bruxismus Krampfartiges, mit Zähneknirschen verbundenes Leerkauen
    Depression Herabsetzung der sensomotorischen Erregbarkeit
    Dysmetrie Nicht- oder Falschausführen beabsichtigter Bewegungen
    Exophthalmus Hervortreten des Augapfels aus der Orbita
    Exzitation Erhöhung der sensomotorischen Erregbarkeit
    (Myo-)Klonus/klonisch Anfallsweise Muskelkontraktionen
    Koma Völlige Bewusstlosigkeit, selbst schmerzhafte Reize werden nicht beantwortet
    Konvulsion Sich in Serien wiederholendes Krampfgeschehen
    Miosis Engstellung der Pupille
    Motilität Passive, erzwungene Beweglichkeit
    Motorik Aktive, spontane Bewegung
    Muskeltonus Spannungszustand der Muskulatur
    Mydriasis Weitstellung der Pupille
    Nystagmus "Augenzittern": langsame Bewegung in die eine, schnellere nachfolgende in die entgegengesetzte Richtung
    Opisthotonus Halsstreckung (tonischer Krampf der Strecker der Nackenmuskulatur). In manchen Fällen, z.B. bei Meningitis, ist jedoch nicht klar, ob diese Haltung nicht zur Reduktion von Schmerzen eingenommen wird.
    Paralyse Vollständige Lähmung
    Parese Unvollständige Lähmung
    Ptosis Schlaffes Herabhängen
    Sensorium Bewusstseinslage, "Verarbeitung" von Reizen
    Somnolenz Schläfrigkeit, Schlummersucht, durch äußere Reize aufhebbar
    Spasmus/spastisch Straffe Lähmung, Krampf
    Strabismus Schielen
    tonisch anhaltend übermäßig angespannt
    Tremor Muskelzittern, um eine mittlere Lage oszillierend
    Trismus Dauerkrampf der Kaumuskulatur
    Zentrale Blindheit Bedingt durch Läsion im Bereich der Großhirnrinde: Pupillarreflex ist auslösbar, Blinzelreflex nicht

    Literatur:

    Braun U, J Attiger, C Brammertz (2015) Ultrasonographic examination of the spinal cord and collection of cerebrospinal fluid from the atlanto-occipital space in cattle. BMC Veterinary Research 11:227



    Letzte Änderung: 22.12.2015


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