1. Allgemeine Untersuchung

Vorbemerkung: Es werden mehr Fehldiagnosen aufgrund von "Abkürzungen" der klinischen Untersuchung als aufgrund von Wissendefiziten gestellt.
Ein Rat vor allem an junge Tierärztinnen und Tierärzte: Denken Sie daran, dass der Trainer eines Weltklasse-Tennisspielers nicht besser Tennis spielen können muss als der Spieler - er muss nur mehr wissen.

Es ist üblich, eine Allgemeinuntersuchung von den speziellen Untersuchungsgängen der einzelnen Organsysteme zu unterscheiden. Die Allgemeinuntersuchung soll hauptsächlich Aufschluss über Dauer und Grad der Erkrankung geben. An jeder Lehrstätte herrschen eigene Vorstellungen darüber, welche Punkte in einer Allgemeinuntersuchung abgehandelt werden sollen. In diesem Skript werden folgende Bereiche zur Allgemeinuntersuchung gezählt: Vorbericht, Signalement (mit Altersbestimmung), Haltung, Verhalten, Ernährungszustand, Pflegezustand, Puls, Atemfrequenz, Körperinnentemperatur, Allgemeinbefinden, Habitus und die Beurteilung der Herde.

1. Vorbericht:

Zu Beginn des Vorberichtes, den man meist in Form eines Gespräches mit dem Tierbesitzer, der für die Betreuung der Tiere zuständigen Person oder dem vorbehandelnden Tierarzt erhebt, muss geklärt werden, welchen Sinn die Behandlung verfolgen soll. Die Maßnahmen bei einem erkrankten Einzeltier, welches geheilt werden soll, unterscheiden sich nämlich von denjenigen zur reinen Erhaltung des Schlachtwertes oder zur Abklärung und Sanierung eines Bestandsproblems.
Für den weiteren Vorbericht kann man sich nicht an ein genau vorgegebenes Schema halten, da die Schwerpunktfragen von Fall zu Fall verschieden sind. So wird man auf wenig Verständnis beim Tierbesitzer stoßen, wenn er ein Jungrind mit fieberhafter Atemwegserkrankung vorstellt, aber ausgiebig nach Details der Fütterung und Reproduktionskennzahlen der Milchkühe befragt wird. Außerdem hängen die Fragen auch davon ab, wo der Vorbericht erhoben wird. Steht man bereits im Stall bei dem erkrankten Tier, wird man kaum nach der (gegenwärtigen) Aufstallung fragen. Zudem hängt die Intensität der Erhebung des Vorberichts auch davon ab, wie gut man einen Betrieb, sein Personal und seine spezifischen Probleme (ggf. auch solche menschlicher oder zwischenmenschlicherArt) bereits kennt.

Handelt es sich um ein "Bestandsproblem" (Eine nützliche Definition eines "Problems" ist folgende: Empfundene Diskrepanz zwischen Soll und Ist, zu deren Behebung keine Routinemaßnahme zur Verfügung steht. Sie bringt den subjektiven Aspekt zum Ausdruck. Was ein Landwirt noch als "normal" empfindet, z.B. die Häufigkeit von Lahmheit bei Kühen, kann für einen anderen Anlass zu erheblichen Investitionen sein.), sind u.a. folgende Dinge abzuklären:

Lässt sich das Problem eingrenzen oder ist von vornherein klar, z.B. Erhöhung der Zellzahl in der Tankmilch, sind selbstverständlich gezielt weitere Informationen einzuholen.

Ist (bisher) nur ein Einzeltier erkrankt, sind (zusätzlich zu einigen der oben erwähnten) folgende Punkte zu klären:

2. Signalement

Altersbestimmung:

Zähne: Die Bestimmung des Alters anhand der Zähne ist bis zu einem Alter von 4,5 Jahren relativ genau. Bei der Geburt haben Kälber manchmal sechs, meistens aber acht Schneidezähne, z.T. noch von Zahnfleisch überzogen und sich dachziegelartig überlappend. Mit 12 Tagen ist das Zahnfleisch von den Zangen zurückgezogen, mit drei Wochen von den Eckschneidezähnen. Mit vier Wochen stehen die Schneidezähne in Reihe. Die Milchschneidezähne sind klein und dreieckig, die bleibenden Zähne groß und schaufelförmig.

Zahnwechsel:

Die bleibenden Schneidezähne benötigen jeweils sechs Monate zum Hochwachsen.

Hornanlage: Die Hornanlage fühlt man bis zum Alter von 14 Tagen als weiche Epithelknospe, ab der vierten Woche ist sie hart, aber noch verschieblich und zwischen dem dritten und vierten Monat wird sie fest. Das Horn wächst bis zur Geschlechtsreife ca. 1 cm im Monat, danach ca. 3 cm in zwei Monaten. Bei Kühen kann man das ungefähre Alter anhand der Hornringe feststellen. Während der Trächtigkeit hat das Horn eine schlechtere Qualität, welches dann nach ca. fünf bis acht Monaten zum Teil herausbröckelt sodass eine ringförmige Einbuchtung entsteht. Der erste Hornring ist also je nach Belegung und Rasse mit 2 1/2 bis 3 Jahren zu sehen; danach erscheint pro Jahr ein weiterer Ring.

Nabel und Nabelbehaarung: Von der Geburt bis ungefähr zum vierten Tag ist die Nabelschnur noch feucht, mit 14 Tagen fällt sie ab und mit drei bis vier Wochen erkennt man meist nur noch eine Kruste am Nabel.

Einteilung:

3. Haltung

Bei der Beurteilung der Körperhaltung werden Kopf und Hals, Ohren, Schwanz, Rückenlinie, und die Stellung der Gliedmaßen für sich und in Relation zueinander erfasst.

Physiologisch ist eine aufrechte Körperhaltung mit gerader Rückenlinie (bei noch wachsenden Rindern leicht nach hinten ansteigend), senkrecht unter dem Körper stehenden und gleichmäßig belasteten Gliedmaßen; der Schwanz ist leicht gespannt, wird aber nicht abgehalten; Kopf und Hals werden "getragen"; die Ohren sollen aufmerksam nach vorne gerichtet sein.

Abweichungen: Entlasten einzelner Gliedmaßen, schlaffer oder abgehaltener Schwanz, aufgekrümmter Rücken, Hängenlassen von Kopf, Hals und Ohren, sägebockartige Haltung (weit nach vorne gestellte Vorder- und nach hinten gestellte Hintergliedmaßen), Kopfschiefhaltung, Opisthotonus, Festliegen in Seitenlage, etc.

4. Verhalten

Als Verhalten bezeichnet man den sensomotorischen Gesamteindruck eines Tieres. Er ist abhängig von verschiedenen Faktoren wie Haltungsform, Rasse, Alter und Geschlecht. Ein gesundes Rind ist aufmerksam und interessiert an den Vorgängen in seiner Umgebung und sieht Menschen, vor allem Fremden, mit Neugier entgegen.

Wenn das Verhalten eines Tieres nicht klar beurteilt werden kann, sollte man es im Vergleich zu seinen Stallgenossen beobachten, um etwaige Abweichungen feststellen zu können.

Abweichungen sind in beide Richtungen möglich:

Beim Rind können auch sogenannte Untugenden beobachtet werden: Ansaugen, Harnsaufen, Zungenspielen, Haarelecken, Lecksucht, Luftschlucken, Heuwerfen.
Manchmal gibt das Verhalten auch Hinweise auf den Umgang der zuständigen Personen mit den Tieren.

Videosequenz, 8 Sek., 0,6 MB   Im Video ist ein Kalb zu sehen, das fortwährend mit seiner Zunge spielt ('Zungenspieler').
 

5. Ernährungszustand

Der Ernährungszustand wird durch Adspektion (am besten von hinten) und durch Palpation erhoben. Man beurteilt folgende Knochenvorsprünge: Schulterblatt, Brustwirbeldornfortsätze, Rippen, Lendenwirbeldorn- und -querfortsätze, Hüfthöcker, Sitzbeinhöcker und Schwanz-ansatz sowie den Triel.

Neugeborene Kälber sind in den ersten Lebenstagen oft relativ mager.

Bei Kühen kann man zur Bewertung das System des "Body condition scoring" verwenden. Dabei wird das subkutane Fettdepot beurteilt und benotet auf einer Skala von 1,0 bis 5,0 in Schritten von 0,25 (siehe Tabelle im Skript zur Vorlesung). Der Ernährungszustand zeigt bei Milchkühen abhängig vom Laktationsstadium einen charakteristischen Verlauf.

6. Pflegezustand

Der Pflegezustand eines Rindes muss immer zusammen mit der Aufstallungsart beurteilt werden.

Die meisten Rinder werden heute nicht mehr geputzt, betreiben aber "Selbstpflege", wenn sie gesund sind und die Möglichkeit dazu haben. Wichtig ist vor allem der Zustand der Klauen, die regelmäßig gepflegt werden müssen.

Deutlich vermehrte Verschmutzung, vor allem im Bereich der Hintergliedmaßen, deutet auf Durchfall hin.

7. Puls

Der Puls wird beim Rind vor allem an der A. facialis geprüft und zwar am kranialen Rand des Musculus masseter und nicht in der Incisura vasorum. Andere Möglichkeiten der Pulsprüfung bestehen an der A. mediana, A. saphena oder A. coccygica.

Die Frequenz beträgt beim Kalb etwa 90 bis 110/min., beim Fresser 70 bis 90/min. und beim erwachsenen Rind 65 bis 80/min.

Die Pulsbeurteilung ist beim Rind nicht besonders bedeutend. Die hauptsächliche Beurteilung des Kreislaufapparates erfolgt über die Herzauskultation, die Zeichnung der Skleralgefäße, die Schleimhautfärbung, Kapillarfüllungszeit und die Untersuchung der großen Venen (siehe spezielle Untersuchung).

8. Atmung

Die Atmung ist immer auch situationsabhängig und wird beeinflusst durch Stress, Angst, Trächtigkeit, Alter und Stall- oder/und Außentemperaturen.

Die Frequenz wird am besten erfasst, indem man das Tier von schräg hinten betrachtet und das Heben und Senken der seitlichen Bauchdecke zählt. Die Normalfrequenz beträgt beim Kalb 30 bis 45/min. und beim erwachsenen Rind 24 bis 36/min. Man unterscheidet Tachypnoe (Erhöhung der Atemfrequenz), Bradypnoe (Verminderung der Atemfrequenz) und Dyspnoe (Störung der Atmung hinsichtlich Frequenz, Tiefe und/oder Volumen).

Zusammen mit Erhöhung der Körpertemperatur gibt ein Anstieg der Atemfrequenz früh Hinweise auf eine Atemwegserkrankung.

9.Temperatur

Die Körperinnentemperatur wird rektal gemessen. Die Normaltemperatur liegt beim Kalb zwischen 38,5 und 39,5 ° C, beim Fresser zwischen 38,0 und 39,5 ° C und beim erwachsenen Tier zwischen 38,0 und 39,0 ° C. Sie ist abhängig von der Rasse, der Tageszeit, der Fütterung und den Umweltverhältnissen.

Man unterscheidet Hypothermie und Hyperthermie, wobei letztere unterteilt werden kann in Fieber, Hitzschlag (primäre Temperaturerhöhung) und Sonnenstich (sekundäre Temperaturerhöhung). Das Fieber lässt sich (bei Kühen) in drei Grade einteilen:

Es kann verschiedene Ursachen haben, z. B. Septikämie, Bakteriämie, Virämie, Toxämie, Anstrengung

Oftmals ist ein Temperaturanstieg das erste erfassbare Zeichen einer beginnenden Erkrankung (z.B. Bronchopneumonie). Es ist daher ratsam, sowohl bei Kälbern, als auch bei Jungrindern und Fressern, in kritischen Zeiten (zum Beispiel nach der Einstallung einer Gruppe) die Temperaturmessung routinemäßig durchzuführen.

10. Allgemeinbefinden

Dabei beurteilt man, unter Zusammenfassung der in der Allgemeinuntersuchung erhobenen Befunde, in welchem Grad das Allgemeinbefinden gestört ist. Die Einteilung reicht von ungestört über gering-, mittel- bis zu hochgradig gestört.

11. Habitus

Mit diesem Ausdruck soll, unter Berücksichtigung des Schweregrades, beschrieben werden, ob es sich um ein akut oder chronisch erkranktes Tier handelt.

12. Gesamteindruck der Herde

Bei mehreren gleichartig eingeordneten Erkrankungsfällen spricht man von einem Bestandsproblem. Dieses verlangt einen speziell auf die Herde abgestimmten Vorbericht (siehe dort) und neben der Untersuchung der erkrankten Tiere auch eine stichprobenartige Beobachtung und gegebenenfalls eine klinische Untersuchung von unauffällig erscheinendenTieren.

Weitere zu erfassende Parameter sind: Verhalten der Herde (z.B. Annahme der Liegeboxen, Reaktion auf den Untersucher), Leistungsdaten, Ernährungszustand in Abhängigkeit des Laktationsstadiums, Pflegezustand, und die Stall- und Umweltverhältnisse.
 



Letzte Änderung: 04.10. 2016


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